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14. Marcellus Pye

 

Marcellus Pye

Marcellus Pye konnte Vormittage nicht leiden. Was freilich nicht heißt, dass man da unten, wo er lebte, ohne Weiteres sagen konnte, ob es Morgen war. Der Altweg unter der Burg war bei Tag wie bei Nacht in trübes rotes Licht getaucht. Das Licht spendeten die Kugeln mit dem ewigen Feuer, die Marcellus mittlerweile für seine bedeutendste oder jedenfalls seine nützlichste Erfindung hielt. Der Altweg war von solchen großen Glaskugeln gesäumt. Marcellus hatte sie vor rund zweihundert Jahren aufgestellt, als er den Entschluss fasste, nicht länger über der Erde unter den sterblichen Bewohnern der Burg zu leben, weil es ihm dort oben viel zu laut, zu trubelig und zu hell war und weil er nicht mehr das geringste Interesse daran hatte. Jetzt saß er trübselig und zitternd neben einer Kugel am Fuß des Großen Schornsteins und tat sich selber leid.

Marcellus wusste, dass es Vormittag war, weil er letzte Nacht draußen unter dem Burggraben einer seiner nächtlichen Spaziergänge unternommen hatte. Heutzutage brauchte Marcellus nur etwa alle zehn Minuten einmal Luft zu holen, und es kostete ihn keine besonders große Mühe, auch mal dreißig Minuten lang überhaupt nicht zu atmen. Er genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit unter Wasser. Es linderte für eine Weile die furchtbaren Schmerzen in seinen morschen alten Knochen. Er watete gern durch den weichen Schlamm und las die Goldmünzen auf, die Menschen in den Burggraben warfen, weil es angeblich Glück brachte.

Nach seiner Rückkehr, bei der er sich durch einen längst vergessenen Kontrollschacht hatte zwängen müssen, hatte er eine lange Kerze zur Hand genommen, in bestimmten Abständen Kerben hineingeschnitten, um die Stunden zu markieren, und in die vierte Kerbe von oben einen Stift als »Wecker« gesteckt. Nicht weil er fürchtete, er könnte einschlafen – Marcellus Pye schlief nicht mehr, ja, er konnte sich gar nicht erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte. Nein, sondern weil er fürchtete, er könnte die Festgesetzte Stunde vergessen, und er hatte seiner Mutter hoch und heilig versprochen, dass er sie nicht vergessen würde. Bei dem Gedanken an seine Mutter verzog er das Gesicht, als hätte er gerade versehentlich in einen fauligen Apfel gebissen, in dem ein fetter Wurm saß. Er schauderte und wickelte sich noch fester in seinen zerschlissenen Umhang. Er stellte die Kerze in ein Glas und setzte sich auf die kalte Steinbank unter dem Großen Schornstein. Und während er zusah, wie die Kerze herunterbrannte, gingen ihm wie üblich und ohne jeden Sinn und Zweck alte alchimistische Formeln durch den Kopf.

Über ihm ragte der Große Schornstein wie eine Säule der Finsternis empor. Ein kalter Wind wirbelte durch sein Inneres und heulte auf dieselbe Weise, wie die Kreaturen in seinen Glasgefäßen früher immer geheult hatten, wenn sie heraus wollten – jetzt wusste er, wie ihnen zumute gewesen war. Während die Kerze gleichmäßig herunterbrannte, warf er von Zeit zu Zeit einen ungeduldigen Blick auf den Stift und spähte dann in den schwarzen Schlot hinauf. Als die Flamme sich dem Stift näherte, wippte er nervös mit dem Fuß und kaute nach alter Gewohnheit an den Fingernägeln, ließ es aber gleich wieder sein, denn sie schmeckten ekelhaft.

Um sich die Zeit zu vertreiben und von der bevorstehenden Aufgabe abzulenken, dachte Marcellus an seinen Streich von letzter Nacht. Es war viele Jahre her, dass er hinaus an die frische Luft gegangen war, und es hatte ihm gar nicht so schlecht gefallen. Es war bewölkt und dunkel, und ein wohliger Nebel dämpfte alle Geräusche. Er saß eine Weile an der Schlangenhelling und wartete, aber seine Mutter hatte sich wohl geirrt. Es kam niemand. Aber das störte ihn nicht sonderlich, denn er mochte die Helling. Sie barg Erinnerungen an die Zeit, als er dort gewohnt hatte, neben dem Haus, in dem jetzt diese albernen Schaufelboote lagen. Er saß auf seinem alten Platz am Wasser und vergewisserte sich, dass seine alten Goldsteine noch da waren. Es tat gut, wieder mal Gold zu sehen, obwohl sie von Schlamm bedeckt und arg verkratzt waren, vermutlich von diesen blöden Booten. Marcellus runzelte die Stirn. Als junger Mann hatte er ein Boot besessen, aber ein richtiges. Der Fluss war damals noch tief und nicht so verschlammt und träge wie heute. Gewiss, die Strömung war reißend und tückisch, aber in jenen Tagen waren die Boote noch groß und hatten lange, schwere Kiele, große Segel und schönes Holzwerk, golden und silbern bemalt. Ja, dachte er, damals waren Boote noch Boote. Und es schien immer die Sonne. Er seufzte und streckte die Hände aus, betrachtete angewidert seine schrumpligen Finger, deren pergamentartige Haut sich fest und durchscheinend über jede Erhöhung und Vertiefung der alten Knochen spannte, und seine dicken gelben Fingernägel, die zu schneiden er nicht mehr die Kraft hatte. Wieder verzog er das Gesicht. Er war durch und durch abstoßend. Gab es denn keine Erlösung für ihn? Eine hoffnungsvolle Erinnerung kam ihm und entschlüpfte ihm im nächsten Augenblick wieder. Das überraschte ihn nicht – mittlerweile vergaß er alles.

Ein helles Pling ertönte, als der Stift von der brennenden Kerze in das Glas fiel. Müde erhob sich Marcellus, fasste in den Großen Schornstein, umklammerte eine Sprosse und setzte den Fuß auf die Eisenleiter, die mit Bolzen an den alten Backsteinwänden befestigt war. Dann machte sich der Letzte Alchimist wie ein missgestalteter Affe an den langen Aufstieg durch das Innere des Schornsteins.

Er brauchte länger als erwartet bis zur Spitze. Mehr als eine Stunde war verstrichen, als er sich, müde und erschöpft, auf den breiten Sims zog, der ganz oben um den Schlot herumlief. Er setzte sich hin, ganz bleich im Gesicht, schloss die Augen und rang nach Atem. Hoffentlich hatte er sich nicht verspätet. Sonst geriet seine Mutter in Zorn. Nach ein paar Minuten zwang er sich, die Augen zu öffnen. Er bereute es sofort. Das schwache Kerzenlicht tief unten am Fuß des Schornsteins machte ihn schwindlig, und bei dem Gedanken, so weit heraufgeklettert zu sein, wurde ihm übel. Er fröstelte in dem feuchten Wind und zog die Füße unter den Umhang. Seine wunden alten Zehen fühlten sich wie Eisblöcke an. Vielleicht, so dachte Marcellus, waren sie wirklich Eisblöcke.

In diesem Augenblick vernahm er Stimmen, junge Stimmen, und sie hallten durch die Wand des Schornsteins. Quietschend wie ein rostiges Gartentor erhob sich der Alchimist und schlurfte zu einem Schatten an der Wand, der auf den ersten Blick wie ein dunkles Fenster aussah. Doch es war kein Fenster, sondern ein Spiegel, der wie ein tiefer Teich war, mit dem dunkelsten Wasser, das man sich vorstellen kann. Marcellus zog eine große goldene Scheibe unter seinen zerlumpten Kleidern hervor und hielt sie an eine Vertiefung oben am Spiegel. Dann spähte er in das Dunkel des Spiegels – es war der allererste, den er gebaut hatte –, und einen Moment lang blickte er verdutzt. Wie im Traum hob er die linke Hand und runzelte dann die Stirn. Nach einer Weile streckte er die Zunge heraus, und dann schlug er zu.

Mit einer Schnelligkeit, die seine alten Knochen verblüffte, stürzte er zum Spiegel, stieß die Arme durch ihn durch und packte zu. Er fluchte – er hatte daneben gegriffen. Daneben! Der Junge – wie war noch mal sein Name? – war ihm entwischt. Mit letzter Kraft stieß er tiefer in den Spiegel hinein, und zu seiner Erleichterung bekam er den Kittel des Jungen zu fassen. Der Rest war ein Kinderspiel: Er krallte seine Finger um den Lehrlingsgürtel, wobei ihm die krummen Nägel sehr zustatten kamen, und zog. Der Junge wehrte sich, aber damit hatte er gerechnet. Womit er nicht gerechnet hatte, war das plötzliche Auftauchen Esmeraldas. Sein altes Gehirn spielte ihm neuerdings grausame Streiche. Dennoch zog er mit aller Macht, denn es ging für ihn um Leben oder Tod, und plötzlich hatte Esmeralda die Stiefel des Jungen in der Hand, und Septimus Heap – so hieß er – purzelte aus dem Spiegel.

Septimus Heap 03 - Physic
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